Wie Vietnam von den Langfristfolgen der Coronakrise profitiert
Unternehmen wollen sich von China unabhängiger machen – und finden in Südostasien eine neue Heimat.
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In dieser Woche habe ich mich mit einem möglichen Gewinner der Coronakrise beschäftigt: Vietnam. Warum das Land Chancen hat, in der Post-Covid-19-Welt besser dazustehen als vorher, beschreibe ich in diesem Report:
Vietnam wird zum Profiteur der China-Flucht
Vietnams Wirtschaftsmetropole Ho-Chi-Minh-Stadt
In China wird es dem Klebebandhersteller Tesa zu eng. Spätestens in fünf Jahren dürfte das Werk in Suzhou an seine Kapazitätsgrenzen stoßen, erwartet die Beiersdorf-Tochter. Doch statt die Fabrik in Schanghais Nachbarstadt ein weiteres Mal auszubauen, setzt das Unternehmen aus Norderstedt lieber auf einen ganz neuen Standort: Im Norden Vietnams will Tesa ein neues 70.000-Quadratmeter-Werk errichten, das 2023 mit der Produktion starten soll. Die Entscheidung dafür fiel im Mai. "Dass Tesa in Zeiten von Corona eine Investition in Höhe von rund 55 Millionen Euro tätigt, ist ein starkes Signal der Anteilseigner für die Zukunft", sagte Konzernchef Norman Goldberg.
Tesa ist mit der Entscheidung für Vietnam nicht alleine. Das Land hat sich bereits in den vergangenen Jahren zur gefragten Option für Unternehmen entwickelt, die ihr Produktionsnetz in Asien breiter aufstellen wollen. Die Coronakrise hat den Trend noch weiter verschärft: Produktionsausfälle nach Lockdowns haben Lieferkettenmanagern die Gefahr vor Augen geführt, sich zu sehr von einzelnen Ländern abhängig zu machen. Die Zuspitzung in der geopolitischen Auseinandersetzung zwischen den USA und China unterstreicht dies zusätzlich.
Südostasien rückt ins Zentrum der Globalisierung
Die Länder der südostasiatischen Staatengemeinschaft Asean, zu der Vietnam gehört, sehen sich dabei in einer guten Position, von der Entwicklung zu profitieren. Während die Warenströme zwischen China auf der einen Seite und Europa und den USA auf der anderen Seite laut einer Analyse des Beratungsunternehmens BCG in den nächsten drei Jahren deutlich zurückgehen werden, rückt Südostasien zunehmend ins Zentrum der Globalisierung. Dort wird das Handelsvolumen mit Europa und den USA demnach bis Ende 2023 um jeweils mehr als 20 Milliarden Dollar wachsen. Der Warenverkehr zwischen Südostasien und China soll sogar um mehr als 40 Milliarden Dollar ansteigen, heißt es in der Ende Juli veröffentlichten Studie.
Das rund 100 Millionen Einwohner große Vietnam gilt als besonders aussichtsreich, um die Entwicklung für sich zu nutzen. Nach Prognosen des Internationalen Währungsfonds kann das Land in diesem Jahr mit einem Wirtschaftswachstum von knapp drei Prozent rechnen – und steht damit so gut dar, wie kein anderes Land der Region. Die Regierung in Hanoi peilt sogar einen Zuwachs der Wirtschaftsleistung von mehr als fünf Prozent an – gelingen soll das auch, weil das Land mithilfe eines entschlossenen Vorgehens der Behörden die Corona-Pandemie vergleichsweise gut unter Kontrolle brachte.
Trotz der Viruskrise gingen die neuen ausländischen Direktinvestitionen im ersten Halbjahr im Vergleich zu den besonders hohen Zuflüssen im Jahr 2019 nur leicht zurück. In Vietnams Sonderwirtschaftszonen, in denen sich ein großer Teil der ausländischen Investoren ansiedelt, wird der Platz für neue Fabriken zunehmend knapp. Im Süden des Landes – dem wirtschaftlichen Zentrum – stiegen die Quadratmeterpreise für Pachtverträge im zweiten Quartal um zehn Prozent gegenüber dem Vorjahr. Die Wirtschaftsmetropole Ho-Chi-Minh-Stadt will die Lage entschärfen und verspricht, bis zum Ende des Jahres die Industrieflächen fast zu verdreifachen.
Ein Grund für das steigende Interesse ausländischer Investoren an Vietnam ist der 1.400 Seiten lange Freihandelsvertrag zwischen der EU und dem Land, der seit 1. August in Kraft ist. Es ist das umfassendste Handelsabkommen, das die Europäer jemals mit einem Schwellenland abgeschlossen haben. In den kommenden Jahren soll es schrittweise die Zölle auf 99 Prozent der gehandelten Waren abschaffen. In Südostasien hat ansonsten erst der Stadtstaat Singapur ein Freihandelsabkommen mit der EU.
Europäische Unternehmen, die in Asien produzieren wollen, können durch den Vertrag auf Kostenvorteile hoffen: "Wir sind sicher, dass Vietnam nicht nur als Investitionsstandort attraktiver wird, sondern nun auch beim Aufbau alternativer Lieferketten immens an Bedeutung gewinnen wird", sagt Marko Walde, der die deutsche Auslandshandelskammer in Vietnam leitet.
Das Land versucht bereits seit mehreren Jahren, sich als neues Produktionszentrum in der Region zu etablieren und öffnet sich dafür nicht nur Richtung Europa für den Freihandel. Mit dem transpazifischen Handelspakt CPTPP ist Vietnam seit 2018 in einer Freihandelszone mit Ländern wie Japan, Kanada und Mexiko. Außerdem beteiligt sich Vietnam an den Verhandlungen über die regionale Freihandelszone RCEP, die auch China und Australien einschließen soll. Im Gespräch ist auch ein Freihandelsvertrag mit den USA.
Apple und Microsoft setzen auf Vietnam
Vietnams Offenheit für die Globalisierung hat bereits zahlreiche große Konzerne in das kommunistisch regierte Land gelockt. Der iPhone-Hersteller Apple verlegte laut einem Bericht des japanischen Wirtschaftsmagazins Nikkei Asian Review Anfang des Jahres rund ein Drittel seiner Produktion kabelloser Kopfhörer von China nach Vietnam. Auch Google und Microsoft haben demnach in diesem Jahr ihre Pläne beschleunigt, einen Teil ihrer Hardware-Produktion von China nach Vietnam zu verlegen. Für den Smartphone-Hersteller Samsung ist das Land, das lange primär für Schuh- und Textilproduktion bekannt war, schon seit Jahren der wichtigste Produktionsstandort. Mehr als die Hälfte der Telefone des koreanischen Herstellers entstehen in vietnamesischen Fabriken.
Die zunehmende Produktionsverlagerung internationaler Konzerne wirkt wie ein sich selbst verstärkender Effekt: Klebstoffspezialist Tesa begründet etwa seine Entscheidung für den Standort Vietnam auch damit, dass sich zuletzt zunehmend wichtige Kunden des Unternehmens aus der Elektronik- und Automobilindustrie in dem Land angesiedelt hätten. Industrielle Klebestreifen des Unternehmens kommen unter anderem in Smartphones zum Einsatz.
"Vietnam profitiert zunehmend von den Skaleneffekten durch die hohen Direktinvestitionen der vergangenen Jahre", sagt Le Anh Tuan, Forschungsleiter bei dem Investmentunternehmen Dragon Capital. Diese hätten die Wettbewerbsfähigkeit des Landes als Produktionsstandort weiter erhöht. Er verweist aber auch auf Probleme: Die schlechte Infrastruktur des Landes habe ein schnelleres Wachstum der Fabriken in dem Land lange Zeit ausgebremst. Dazu trug aus seiner Sicht auch die Anti-Korruptionskampange der Regierung in Hanoi bei, die Infrastrukturinvestitionen erheblich verlangsamte. Tuan zeigt sich aber optimistisch, dass nun die Kehrtwende gelingt: "Covid-19 hat die Regierung dazu gebracht, dem Infrastrukturausbau in ihrem Konjunkturprogramm Priorität zu geben." Er glaubt, dass dies Vietnams Wachstumspotenzial in dem kommenden Jahrzehnt weiter erhöhen kann.
Der Ökonom erwartet auch, dass Vietnams Erfolg im Umgang mit dem Coronavirus der Reputation des Landes bei ausländischen Investoren helfen wird: Bisher verzeichnete Vietnam weniger als 1000 bestätigte Infektionen und weniger als zwei Dutzend Todesfälle. "Das Land hat seine Fähigkeit bewiesen, mit externen Risiken umzugehen und Stabilität zu bewahren", sagt Tuan.
Dieser Artikel ist zuerst im Handelsblatt erschienen.
Was mich diese Woche sonst noch beschäftigt hat:
Kundgebung vor dem Demokratiedenkmal in Bangkok am 16. August 2020
THAILAND: Der größte Antiregierungsprotest seit dem Militärputsch in Thailand vor sechs Jahren wird von dem Anblick eines Abwesenden überschattet. Überlebensgroße und goldfarben eingerahmte Portraits von Thailands König Maha Vajiralongkorn säumen die Prachtstraße Ratchadamnoen in Bangkoks Norden. Normalerweise ist sie die direkte Verbindung zwischen zwei der wichtigsten Paläste des Königreichs. Am vergangenen Sonntag war die symbolträchtige Verkehrsader aber zumindest für ein paar Stunden unterbrochen.
Mehr als 10.000 Demonstranten blockierten die Straße, die rund um Bangkoks Demokratiedenkmal führt. Auf der Großkundgebung forderten sie den Rückzug der militärnahen Regierung und eine demokratischere Verfassung. Viele von ihnen waren aber auch gekommen, um über den Mann an der Spitze des Königreichs zu sprechen, der den Großteil seiner Zeit in Europa verbringt. Die offene Debatte über Vajiralongkorn und Rolle der Monarchie ist in Thailand, wo auf Königsbeleidigung pro Vergehen bis zu 15 Jahre Gefängnis drohen, ein Tabubruch. Junge Aktivisten wollen aber dennoch nicht länger schweigen.
Ich habe darüber für die Neue Zürcher Zeitung berichtet. Den kompletten Text lesen Sie hier. Wenn Sie mögen, schicke ich Ihnen auch gerne eine Kopie per E-Mail zu. Schreiben Sie mir einfach eine kurze Mail an peer@weltreporter.net.
Was nächste Woche wichtig wird:
MYANMAR: Am Dienstag jährt sich der Beginn einer der größten Flüchtlingskrisen der vergangenen Jahre zum dritten Mal. Am 25. August 2017 attackierte eine Rohingya-Rebellengruppe in Myanmar Polizeistationen und Stellungen des burmesischen Militärs. Myanmars Armee reagierte mit einem brutalen Militäreinsatz, der Hunderttausende Zivilisten in die Flucht Richtung Bangladesch trieb. Überlebende berichteten davon, dass ganze Dörfer systematisch zerstört wurden. Drei Jahre später ist die Krise noch immer ungelöst. Eine Rückkehr nach Myanmar würde die Rohingya laut unabhängigen Beobachtern erneut in eine lebensbedrochliche Situation bringen. In den Flüchtlingscamps in Bangladesch ist es den Betroffen aber ebenfalls kaum möglich, eine neue Existenz aufzubauen.
Mein Video der Woche:
INDONESIEN: Muhammad Didit hat mit Nichtstun einen Youtube-Hit gelandet. Zwei Stunden, 20 Minuten und 52 Sekunden sitzt der junge Indonesier vor der Kamera, starrt ins Leere und schweigt. Am 10. Juli hat er das Video hochgeladen. Seitdem haben es schon mehrere Millionen Menschen angesehen. Ich lerne von Didit: Man muss sich nicht immer verausgaben, um viel zu erreichen.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein schönes Wochenende!
Viele Grüße aus Chiang Mai
Mathias Peer
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