Warum Indiens Wirtschaftskrise tödlich ist
Laut Ökonomen sterben in Indien mehr Menschen an den Folgen des Wirtschaftseinbruchs als an einer Covid-19-Infektion.
Liebe Leserinnen und Leser,
kein Land meldet derzeit so viele neue Coronavirus-Infektionen am Tag wie Indien. Die Zahl der bestätigten Corona-Toten ist in dem Land auf über 60.000 gestiegen. Doch die Pandemie hat auch noch eine zweite Seite: Sie hat zu einem wirtschaftlichen Einbruch geführt, der Millionen Menschen in die Armut zurückwirft. Auch das kostet am Ende Leben. Darum geht es in meinem Report in dieser Woche.
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Ist Indiens Flaute tödlicher als das Virus?
Indiens Hauptstadtregion Delhi
Verzweiflung über seine wirtschaftliche Situation trieb Ompal S. in den Tod. Die Angehörigen des 55 Jahre alten Zuckerrohrbauern berichten, dass der 55-Jährige seine Ernte nicht loswurde, weil die lokale Zuckerfabrik den Rohstoff wegen eines Lockdowns nicht mehr annahm. Der fünffache Familienvater beging Suizid – und löste in seiner Heimat, Indiens bevölkerungsreichstem Bundesstaat Uttar Pradesh, eine Protestwelle von Bauern aus, die sich angesichts der Coronakrise im Stich gelassen fühlten. Die prominente Oppositionspolitikerin Priyanka Gandhi gab der Regierung indirekt eine Mitverantwortung an dem Tod: Sie warf den Behörden vor, die Probleme der Bauern zu ignorieren.
Der Vorfall zeigt, wie sehr schwere Wirtschaftsflaute, die Indien als Folge der Coronakrise getroffen hat, das Land auch fernab der Virus-Hotspots erschüttert. Einnahmeausfälle und steigende Arbeitslosigkeit lassen Millionen Menschen unter die Armutsgrenze rutschen – mit schwerwiegenden Auswirkungen auf die Lebensmittel- und Gesundheitsversorgung. Die Entwicklung ist aus Sicht von Ökonomen brandgefährlich: Sie warnen davor, dass die wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise zu mehr Toten führen könnten als die Infektionen mit dem Sars-CoV-2-Virus.
Die Sterblichkeitsrate steigt signifikant an
Offiziell hat Indien bei 3,3 Millionen bestätigten Infektionsfällen derzeit rund 60.000 gemeldete Corona-Tote. Ökonomen der State Bank of India, dem größten Kreditinstitut des Landes, verweisen in einer neuen Untersuchung darauf, dass die Zahl der wirtschaftlichen Opfer die Sterblichkeitsrate jedoch signifikant steigen lässt. Sie haben dafür berechnet, wie viele Menschen bei einem Rückgang der Wirtschaftsleistung um zehn Prozent zusätzlich sterben als normalerweise. Ihre Ergebnisse beschreiben sie in einem neuen Report als besorgniserregend.
Für den Bundesstaat Maharashtra, in dem die Finanzmetropole Mumbai liegt und der einen besonders starken Covid-19-Ausbruch erlebt hat, gehen sie von aktuell 0,34 Covid-19-Toten pro 1000 Einwohner aus. Gleichzeitig käme es zu 1,28 zusätzlichen Toten aufgrund des Wirtschaftseinbruchs, heißt es in der Studie. In ärmeren Bundesstaaten wie Uttar Pradesh sieht das Verhältnis laut den Ökonomen noch extremer aus: 0,16 Covid-19-Toten stünden hier statistisch gesehen 3,41 ökonomische Todesopfer gegenüber – wieder jeweils pro 1000 Einwohner.
Eine ähnliche Warnung hatten bereits im Mai die Ökonomin Deepa Mani und ihr Kollege Shashwat Alok von der Indian School of Business an die Regierung gerichtet: Sie schätzten, dass ein Rückgang der Wirtschaftsleistung um fünf Prozent in Indien zu 47.000 bis 62.000 zusätzlichen Toten führen würde. Ein 30-prozentiger Einbruch hätte nach ihrem Modell 330.000 bis 430.000 Tote zur Folge. Grundlage ihrer Berechnungen ist das Absinken der Sterblichkeitsrate, das in Indien in den vergangenen Jahrzehnten bei wirtschaftlichem Wachstum zu beobachten war. In wirtschaftlich schlechten Zeiten treiben hingegen nicht nur ökonomisch motivierte Suizide die Sterblichkeit nach oben. Auch vermehrte Todesfälle durch Krankheiten wie Tuberkulose und eine erhöhte Kindersterblichkeit stehen in direktem Zusammenhang mit steigender Armut.
Mani und Alok sind sich bewusst über die Grenzen ihres Modells und der schwierigen Vergleichbarkeit mit den Covid-19-Todesfällen. Sie verweisen dabei unter anderem auf die Dunkelziffer in den indischen Statistiken. Aus Sicht von unabhängigen Beobachtern könnte die Zahl der Menschen, die an dem Coronavirus gestorben sind, deutlich höher sein, als offiziell gemeldet.
Das Grundargument der Ökonomen bleibt davon aber unberührt: In einem Aufsatz verweisen sie darauf, dass die Vorstellung, zuerst Menschen vor dem Covid-19-Tod zu bewahren und in einem zweiten Schritt die Wirtschaft zu retten, nicht funktioniere. Die Regierung müsse vielmehr die Pandemie und die wirtschaftliche Entwicklung gleichzeitig im Blick behalten, um so viele Leben wie möglich zu bewahren. "Wir brauchen einen datengetriebenen Ansatz, um Menschenleben und die Wirtschaft gleichzeitig zu schützen", forderten sie.
Zahl der Covid-19-Infektionen steigt rasant
Doch derzeit scheint Indien beides nicht zu gelingen: Die Zahl der Covid-19-Infektionen nahm zuletzt pro Tag um rund 75.000 zu – das Virus breitet sich damit so schnell aus wie nirgendwo sonst auf der Welt. Ein Abflachen der Kurve ist derzeit nicht in Sicht. Experten rechnen deshalb damit, dass Indien in Kürze Brasilien als das Land mit den zweitmeisten Fällen der Welt überholen könnte. Mittelfristig würde Indien auch an den USA vorbeiziehen, wenn der Trend anhält. Mehrere Minister im Kabinett von Regierungschef Narendra Modi sind bereits an Covid-19 erkrankt – darunter der einflussreiche Innenminister Amit Shah.
Eine Untersuchung von 15.000 Menschen auf Antikörper in der Hauptstadt Neu Delhi legt nahe, dass dort bereits 30 Prozent der Bevölkerung mit dem Coronavirus infiziert waren. Die Pandemie ließ sich aber nicht auf die Großstädte beschränken. Mehr als die Hälfte der neuen Infektionsfälle wird inzwischen aus ländlichen Gegenden gemeldet.
Gleichzeitig zeigen sich die wirtschaftlichen Schäden, die unter anderem durch Indiens extrem strengen monatelangen Lockdown entstanden sind, immer deutlicher: Volkswirte gehen davon aus, dass das Bruttoinlandsprodukt in dem im Juni zu Ende gegangenen Quartal im Vergleich zum Vorjahr um rund 20 Prozent gesunken ist. Die Ausgangsbeschränkungen, die Modi seinem Land verordnet hatte, schlugen in dem Zeitraum besonders zu Buche. Mit Blick auf das gesamte Finanzjahr, das in Indien im März endet, werden die Prognosen immer pessimistischer. Die Ökonomen der Bank Barclays hatten ursprünglich ein Minus von drei Prozent vorhergesagt. Nun gehen sie davon aus, dass die Wirtschaft um sechs Prozent schrumpfen wird.
Die Weltbank warnt davor, dass untere Einkommensschichten von der Entwicklung besonders stark betroffen sind: Sie führte in zehn indischen Bundesstaaten eine Umfrage unter in Armut lebenden Haushalten durch. Im Durchschnitt hätten diese während des Lockdowns 60 Prozent ihres Einkommens verloren, lautete das Ergebnis. Indien sei es in den vergangenen Jahren zwar gelungen, die Zahl der in Armut lebenden Menschen stark zu verringern, heißt es in dem Bericht der Organisation. "Doch unsere vorübergehende Analyse zeigt, dass diese Erfolge infolge der Covid-19-Lockdowns zu verschwinden drohen."
Dieser Artikel ist zuerst im Handelsblatt erschienen.
Was mich diese Woche sonst noch beschäftigt hat:
Urlauber am Karon Beach in Phuket
THAILAND: Zwei Wochen Quarantäne zu Ferienbeginn, regelmäßige Covid-19-Tests und ständige Überwachung mit einem GPS-Armband: So stellen sich die Behörden in Thailand nach monatelanger Abschottung den Neustart des Tourismusgeschäfts vor. Nach Angaben von Regierungsvertretern könnten im Oktober die ersten Urlauber unter diesen strengen Sicherheitsvorkehrungen in das tropische Reiseland zurückkehren. "Eine Lockerung der Einreiseverbote ist für den Tourismussektor überlebenswichtig", sagte Thailands Premierminister Prayut Chan-ocha diese Woche.
Der Chef der militärnahen Regierung will mit der Strategie einen Ausweg aus Thailands schwerer Wirtschaftskrise finden: Rund ein Fünftel der Wirtschaftsleistung des Schwellenlandes hängt am Tourismus – seit April dürfen aber keine Urlauber mehr ins Land. Mit dieser Abriegelung brachte das Land zwar das Coronavirus unter Kontrolle: Seit drei Monaten verzeichnete es keine lokale Infektion mehr. Gleichzeitig droht Hotels, Fluglinien und Reiseveranstaltern wegen fehlender Kunden das Aus.
Das Vorhaben der thailändischen Behörden soll nun internationale Gäste zurück ins Land holen und gleichzeitig verhindern, dass sich das Virus wieder ausbreitet. Laut dem von Tourismusminister Phiphat Ratchakitprakarn vorgelegtem Plan, sollen zunächst nur Reisen auf die Ferieninsel Phuket erlaubt sein. Urlauber müssten demnach vor ihrer Abreise und nach ihrer Ankunft auf Covid-19 getestet werden. Zudem dürfen sie demnach die ersten zwei Wochen ihres Aufenthalts nur in ausgewählten Hotelanlagen verbringen. Für Gäste, die von Phuket aus in andere Landesteile weiterreisen wollen, soll sich die Quarantäne um sieben weitere Tage verlängern. Transportminister Saksiam Chidchob sagte, dass die Touristen zusätzlich wahrscheinlich auch ein GPS-Armband tragen müssen, das ihre Bewegungsdaten aufzeichnet.
Die strengen Regeln sollen der Bevölkerung das Gefühl vermitteln, weiter vor dem Virus sicher zu sein: "Sie werden isoliert sein", sagte Premier Prayut mit Blick auf die Touristen. "Wenn das Virus entdeckt wird, werden wir es eindämmen können", versprach er. Doch ob ein Thailand-Urlaub angesichts der strikten Auflagen überhaupt noch attraktiv ist, bleibt zweifelhaft.
Ich habe darüber für das Handelsblatt berichtet. Den vollständigen Text finden Sie hier.
MALAYSIA: Seine Investoren hat der malaysische Unternehmer Lim Wee Chai in den vergangenen Monaten noch glücklicher gemacht als Elon Musk die Tesla-Anleger. Lims Konzern Top Glove, der weltgrößte Hersteller von Gummihandschuhen, profitiert wie kaum ein anderes Unternehmen von der Coronavirus-Pandemie. Der Aktienkurs in Kuala Lumpur hat sich angesichts der stark gestiegenen Nachfrage nach der Schutzausrüstung seit Jahresbeginn mehr als verfünffacht – eine derart große Euphorie an der Börse konnten in der Zeit nicht einmal Musks Elektroautos auslösen.
Lim ist angesichts der Entwicklung zum Aushängeschild eines Börsenbooms geworden, der die gesamte Branche seines Heimatlandes erfasst hat: Malaysia beheimatet neben Top Glove eine Reihe von global führenden Herstellern, die mit ihren Milliarden von Handschuhen aus dem Rohmaterial Kautschuk in den vergangenen Monaten ihren Börsenwert vervielfachen konnten. Das südostasiatische Land steht insgesamt für rund zwei Drittel der weltweiten Produktion. Analysten glauben, dass die Unternehmen noch erhebliches Potenzial nach oben bieten. Doch Anleger, die jetzt noch einsteigen, gehen auch erhebliche Risiken ein. Sie wetten darauf, dass die Corona-Pandemie so bald nicht verschwinden wird.
Mehr dazu können Sie in meinem Text unter diesem Link nachlesen. Wenn Sie wollen, schicke ich Ihnen auch eine Kopie per E-Mail. Schreiben Sie mir einfach an peer@weltreporter.net.
Was noch wichtig wird:
THAILAND: Demokratieaktivisten haben in Thailand in den vergangenen Wochen eine Vielzahl von Kundgebungen abgehalten, vor allem an Universitäten – aber auch vor dem Demokratiedenkmal in Bangkok mit mehreren Zehntausend Teilnehmern. Sie thematisierten dabei auch die Rolle der Monarchie im Land – ein Tabubruch in Thailand. Dagegen formiert sich zunehmender Widerstand: Mehrere Aktivisten sind festgenommen worden. Am Sonntag wollen Monarchiebefürworter auf die Straße gehen. Zu der Kundgebung ruft die rechtsgerichtete Gruppe “Thai Pakdee” auf.
INDIEN: Am Montagabend Ortszeit geben die indischen Behörden die offiziellen Zahlen für das Bruttoinlandsprodukt im zweiten Quartal dieses Jahres bekannt. In den Monaten von April bis Juni schlug der strenge Corona-Lockdown in dem Land besonders hart durch. Dementsprechend wird wird erwartet, dass die Wirtschaft drastisch geschrumpft ist. Ich werde die genauen Daten am Montag auf Twitter posten, sobald sie da sind.
Mein Film der Woche:
Ausschnitt aus dem Netflix-Film “Gunjan Saxena: The Kargil Girl”
Die Helikopter-Pilotin Gunjan Saxena war eine der ersten Frauen in der indischen Luftwaffe. Ihre Karriere gilt für viele Inderinnen als Inspiration. Netflix hat ihre Biografie nun verfilmt. In Indien hat der Film bereits kurz nach Erscheinen eine Kontroverse ausgelöst. Die indische Armee kommt darin nämlich nicht nur gut weg. Die Luftwaffe hat deswegen eine offizielle Beschwerde an die Zensurbehörde geschrieben.
Noch ist der Film online. Sie können ihn auf Netflix hier ansehen oder hier den Trailer auf Youtube.
Viel Vergnügen und viele Grüße aus Bangkok
Mathias Peer
P.S.: Wenn Sie Anregungen zu dieem Newsletter haben oder eine Themenidee, schreiben Sie mir gerne an: peer@weltreporter.net.